In einem Zimmer unterm Dach wohnte ein Junge, der am Tag gerne Skateboard fuhr und abends Geschichten in dicken Büchern las, dem Nachts im Traum manchmal total lustige Sachen passierten und komische Leute begegneten. Wenn er schlief und die Stadt auch, war es hier oben still und dunkel. Eine Straßenlaterne warf ihren fahlen Schein durch das Dachfenster an die Wand. Da traf sie sich manchmal mit dem luftigen Licht der Mondes, wenn der richtig stand und volle Backen hatte. Manchmal war von irgendwo her das Rattern einer Eisenbahn zu hören. Der Wecker tickte ruhig weiter und schien auch zu träumen.
Doch plötzlich wurde diese verschlafene Schummrigkeit jäh durchbrochen. Aus einer Ecke des Zimmers gellte ein helles, dünnes Stimmchen. Dort lag eine Salzstange unter dem Tisch, die heruntergefallen war. “He, ist da einer?” Und als eine dreiviertelleere Mineralwasserflasche, die neben ihr nichtsahnend an der Bettkante stand, kaum hörbar gurgelte, machte die Stimme einfach unverdrossen weiter: “Meine Güte, was habe ich für ein Glück gehabt. Vom Teller bin ich ihm gerutscht, ohne dass er es gemerkt hat. Nur deshalb hat er mich nicht zerbissen, zerkaut und runtergeschluckt. Mein Gott, ich bin dem sicheren Magensafttod entronnen. Was mach ich nur, was mach ich nur?”
Die dicke Plastikflasche, die an der Hüfte schöne Noppen hatte, etwas hohl klang, aber viel herumgekommen war, antwortete: “Du braun gebackener und weiß gesprenkelter Glückpilz, du. Mich wird er morgen austrinken. Und dann packt er mich, bringt mich zum nächsten Supermarkt und steckt mich durch ein Loch in die nimmersatte Plastikpresse.” Dann fing sie furchtbar an zu schluchzen und zu jammern. “Oh, nein, das ist mein sicheres Ende.” Sie war sehr verzweifelt. Denn die Flasche, die viel Phantasie besaß, sah schon wie ein Fernsehbild jenen Augenblick vor sich, in dem sie auf dem Fließband in den Apparat rutschte und die schweren, unbarmherzigen Pressballen auf sie zukamen. Bei diesem schrecklichen Gedanken hatte die Ärmste jedesmal ihr letztes Knacken und Knistern im Ohr. Das konnte sie kaum ertragen.
“Ach, alte Sprudlerin”, meldete sich die Salzstange. “Mir wird es doch nicht besser ergehen. Mich schmeißt er morgen oder übermorgen, wenn er mich auf dem Boden findet, in den Mülleimer. Denn ich bin angebrochen und unansehnlich”, wimmerte das schmächtige Gebäck, dem tatsächlich an einem Ende ein Stück fehlte. Außerdem vermisste die Teilstange ihre verspeisten Kameraden, mit der sie so lange in der Tüte gesteckt hatte. Da hatten sie miteinander getobt und mächtig Spaß gehabt. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? “Komm, wir verschwinden, bevor unser letztes Stündchen schlägt. Lass uns dorthin, wo man uns noch braucht. Wir wollen das Glück finden”, nahm das dünne Ding all seinen Mut zusammen, ohne überhaupt zu wissen, wo das denn sein könnte. Die Flasche, deren Wasser langsam schal wurde, wusste auch nicht recht weiter. Deshalb überlegte sie nicht allzu lange, rülpste nochmal und stimmte zu. Aber wo denn der Ort liegen könnte, an dem sie geachtet, glücklich und nicht gedankenlos entsorgt würden, das wussten beide nicht. So schwiegen sie eine Weile ratlos, während der Mond hinter Wolken verschwand und es im Zimmer noch ein wenig düsterer wurde.
Eine Weile war nichts mehr zu hören. Bis ein graues Computerkabel, das zwischen Socken und Comicheften auf dem Fußboden lag, sich in das Gespräch der Zimmergenossen einmischte. Das lange Ding, durch das in seinem kurzen Leben schon viele Informationen geflossen war, hatte die ganze Zeit zugehört. Es kannte sich aus und wusste, was ihm blühte. Der Gedanke, monate-, vielleicht sogar jahrelang hinter dem PC rumhängen zu müssen, war grausam. Das kluge Kabel würde sich zu Tode langweilen. Es fand, es sei zu Höherem berufen. Und vielleicht ergab sich ja nun eine unverhoffte Chance, dem mühseligen Leitungstrott zu entkommen. Blitzschnell erkannte das graue Verbindungskabel die Situation und erklärte seinen verdutzten Zimmergenossen, dass es über Wissen verfüge, ohne das ihre geplante Flucht niemals gelingen könne. Dass es selbst nicht wusste, wohin es gehen sollten, sagte es lieber nicht. Das war ja vielleicht auch nicht so wichtig. Allen dreien war das in diesem Moment total egal. Die beiden Ratlosen lauschten ihrem neuen Anführer, der ihnen erst noch einmal erklärte , welches große Glück sie doch hätten, einem Kerl wie ihm über den Weg gelaufen zu sein. “Mir nach! Ich werde euch erretten!” rief er schließlich ins Halbdunkel. Im selben Moment stand das kühne Kabel auf und marschierte zur Tür, die einen klitzekleinen Spalt offen stand. Das genügte. Schon war die PC-Schnüre hindurch geschlüpft, stemmte die Tür mit seiner ganzen Kraft noch ein bisschen weiter auf, sodass auch die Flasche hindurchpasste. Die Stange folgte hinterdrein.
Draußen! Das schlaue Kabel fand gleich einen Fahrradweg, der sich an einer Landstraße entlang schlängelte und auf dem sie vor den Autos geschützt waren. So wanderten sie den ganzen Tag und sangen fröhliche Lieder. Als es langsam dämmerte und sie das Gefühl hatten, schon weit genug weg zu sein, suchten sie sich ein Lokal, um ihre erfolgreiche Flucht zu feiern. Das wurde ein lustiger Abend, an dem das Kabel viele Geschichten erzählte und die drei oft auf ihren Erfolg anstießen. Weil sie so guter Dinge waren und schon ein wenig duselig, vergaßen sie die Zeit. Als das Geld alle war, warf sie der Wirt raus. Sie hatten zwar kein Geld mehr und auch keine Unterkunft, aber gute Laune und das clevere Kabel, das stets Rat wusste. Es fand eine Tonne, die auf dem Bürgersteig stand. Mit vereinten Kräften öffneten sie den Deckel, krochen hinein und fielen sofort in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen kam der Müllwagen und schluckte alles, was in der Tonne war, auch die drei verpennten Flüchtlinge. Als sie das Tageslicht wiedersahen, befanden sie sich auf einem übel riechenden Hügel, den sie fluchtartig verließen. Hier verliert sich die Spur der wackeren Gesellen. Es wird erzählt, dass sie irgendwann an einen Fluss kamen. Im hohen Schilf sollen sie ein altes, halb verrottetes Boot gefunden haben, das sie losbanden und fortan als Fluchtfahrzeug benutzten.
Seitdem werden viele Geschichten über die drei Ausreißer erzählt, von denen keiner weiß, welche nun wirklich wahr ist. Manche sagen, das Boot ist sehr alt gewesen und hat mindestens ein riesiges Leck gehabt. Schon als sie die Flussmitte erreichten, ist der Kahn untergegangen und alle sind jämmerlich ertrunken.
Andere sagen dagegen, so groß sei das mit dem Leck gar nicht gewesen. Die Flasche hat auf Anweisung des Kabels ihren Hals hineingesteckt. So sind sie immer weiter in völlig unbekannte Gewässer getrieben worden, bis sie nach fünf, sechs oder sieben Wochen in einen Orkan gerieten und an den Strand einer unbekannten Insel geschwemmt wurden, auf der noch das letzte Quangelwangel lebte. Aber das erfuhren sie erst viel später. Zuerst lagen sie einige Stunden bewusstlos am Strand. Dann weckte sie der Herrscher der Insel, der sich als Herr Halja Hanja Golja Biddim, der 32. , König von Zackhittizopp, vorstellte. Ein sehr höflicher Mann. Er ließ für die drei Fremdlinge sofort ein Willkommensfest ausrichten, obwohl die gar keine Geschenke dabei hatten. Und weil das so üblich ist in Zackhittizopp, gab er ihnen auch noch seine drei wunderschönen Töchter zur Frau. Von denen war die eine, Tressli, schwarzhaarig, die andere, Bessli, brünett und letzte, Nebogen, blond. “Was will man mehr?”, dachten sich die drei Freunde und wähnten schon, sie hätten ihr Glück gefunden. Als aber König Halja Hanja Golja Biddim ihnen dann auch noch das halbe Königreich schenken wollte, wusste er nicht, wie man die Hälfte durch drei teilt. Daraus entstand ein furchtbarer Streit, in den sich dummerweise die Lehrer der Insel einmischten, die von Bruchrechnung auch keine Ahnung hatten, das aber natürlich nicht zugeben wollten. Darüber kam es schließlich zum Krieg. Die ganze Insel wurde verwüstet, alle Häuser niedergebrannt. Was aus den drei Freunden wurde, weiß bis heute niemand.
Andere sagen aber, das sei alles ganz anders gewesen. Die drei sind danach tatsächlich auf das offene Meer hinausgetrieben worden, tausende von Seemeilen durch Platzregen, Monsune, wolkenlosen Himmel, sengende Äquatorhitze und absolute Windstille. Irgendwann kamen sie dann genau an die Stelle, wo die Regenbogen ihre Füße zur Abkühlung in den Ozean tunken. Alle waren von den Farben, die sich in den Wellen millionenfach brachen, so geblendet, dass ihnen schwindelig wurde. Aber das Computerkabel hat sich die Augen zugehalten und ist sofort hochgeklettert, die beiden anderen hinterher. Und obwohl die Farben sie sehr geblendet haben, kamen alle drei wohlbehalten oben an. Da standen sie auf dem höchsten Punkt des Regenbogens und genossen die wunderbare Aussicht. Dabei haben sie gejubelt, hielten sich an den Händen und haben ein fröhliches Wanderlied geträllert. Denn sie dachten, sie hätten ihr Glück gefunden. Das schrieben sie auf eine Postkarte, die sie in Gottes eigenen Briefkasten steckten. Die ist aber leider verloren gegangen. Doch die drei, sagt man, sollen wirklich nette Engel geworden sein, die am liebsten schlafenden Kindern helfen.